Diogenes von Sinope: Bedürftigkeit als Ziel

Diogenes von Sinope: Bedürftigkeit als Ziel

Auf der einen Seite: Diogenes, der berühmte Philosoph – auf der anderen: Alexander der Große, ein noch berühmterer Welteroberer: auf die Frage des letzteren, nach einem Wunsch des ersteren, den dieser jenem erfüllen könne, antwortete Diogenes: „Geh‘ mir aus der Sonne“.

Diese Begegnung des in seinem Fasse liegenden Diogenes mit einem der größten Feldherren aller Zeiten, oftmals geläufig auch einem am Altertum vollständig Uninteressierten, wurde bereits in der Antike häufig kolportiert und bot eine Steilvorlage, an der sich über Jahrhunderte hinweg Generationen von Schriftstellern und Malern kreativ abarbeiten konnten – und dies auch taten.

Diogenes war der berühmteste Schüler und Vertreter der von seinem Lehrer Antisthenes gegründeten philosophischen Richtung der Kyniker, der „Hunde“, wie deren Mitglieder aufgrund ihres nicht gesetzeskonformen und unmoralischen Verhaltens genannt wurden. Dieses brach mit den Tugendvorstellungen und ethischen Normen des Staates, denen sich die Anhänger konsequent verweigerten. Die Ablehnung einer (bezahlten) Erwerbsarbeit, zog zwangsläufig Armut nach sich; die Ablehnung der gesellschaftlichen Konventionen und Regeln, die Ablehnung der Gesellschaft selbst.

Bedürfnislosigkeit als Credo

Aus der Not machten die Kyniker eine Tugend, indem sie als Bettelphilosophen durch das Land zogen: Bedürfnislosigkeit, Freiheit von Besitz und die Loslösung aller sittlich- juristischen Belastungen und Bindungen an und durch Familie, Gesetze, Moral und Tradition waren herrschende Maxime ihrer Philosophie, der sich auch Diogenes vollständig verschrieb. Äußeres Kennzeichen ihrer inneren Zugehörigkeit zum Kynismus war eine auffällige und ärmliche Kleidung, die gleichzeitig dazu diente, die Aufmerksamkeit der Masse zu erregen und durch sie und in ihr eine Verbreitung des kynischen Gedankengutes zu erreichen

Biographie mit Lücken

Trotz seiner Berühmtheit sind biographische Fakten zu der Person Diogenes schon im Altertum strittig: eine der Hauptquellen seiner Vita ist die Philosophengeschichte des zufällig namentlich gleichlautenden Diogenes (hier: Laertios), der allerdings rund 650 Jahre später lebte. Geboren wurde Diogenes der Philosoph um 430 v. Chr. in Sinope am Schwarzen Meer – womit er heute Türke wäre: oft nur unzureichend, bruchstückhaft und widersprüchlich sind Details zu seinem Leben überliefert: möglicherweise war er der Sohn eines Diebes und Betrügers (als potentieller Ursache seiner späteren, radikalen Lebensführung?): vielleicht wurde er einst in Korinth als Sklave verkauft; einem Ort, den er nach anderen Aussagen nie besucht hat.

Laut einiger Autoren hinterließ er Schriften – von denen sich nichts erhalten hat -, laut anderen tat er nichts dergleichen, in welchem Fall nichts erhalten sein kann. Hauptsächlich in Anekdoten wurden Fakten über seine Person und Leben transportiert: die Entsorgung seines Trinkbechers, als er einen Jungen sah, der Wasser aus der hohlen Hand trank; die Suche mit einer brennenden Fackel im vollen Sonnenlicht nach einem Menschen – der Ausgang ist nicht überliefert – und das bereits erwähnte Aufeinandertreffen mit Alexander dem Großen, der ihn in seinem Faß vorfand, das Diogenes als (recyceltes) Dach über dem Kopf genügte.

Ein Fass – wenngleich nicht dieses – fungiert darüberhinaus als verbindendendes Element der Viten dieser beiden so unterschiedlichen Größen ihrer Zeit: während Diogenes zu Lebzeiten (als Politikum und zum Schutz vor Wind und Wetter), Zuflucht in einer Tonne suchte, wurde Alexander nach seinem Tode, auf dem Weg zu seinem endgültigen Bestattungsort, in einem solchen, honiggefüllt, konserviert. Auch sollen, der Legende nach, beide am gleichen Tag im gleichen Jahr gestorben sein (10. Juni 323 v. Chr.), aber auch dies ist nicht sicher überliefert.

Er lebte, was er predigte

Zu Lebzeiten Lehrer mehrerer Schüler, lebte Diogenes, was er predigte: er wurde nicht aufgrund eines Unglückes, einer Krankheit oder finanzieller Not an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sondern war ein Außenseiter aus eigenem Entschluss; ein Störer der Ordnung aus eigenem, freien Willen. Als Schüler seines Lehrers verinnerlichte er dessen Prinzipien bis zum Äußersten und machte sich derart frei von gesellschaftlichen Zwängen, dass ihm und seinen Mitbrüdern das Adjekt „hündisch“ als vollumfänglich erläuterndes Charakteristikum ihrer Zugehörigkeit verliehen wurde. Er selber benutzte es (selbst)bewusst im Gespräch mit anderen und als Ausdruck „zynisch“ hat es in unseren heutigen Sprachschatz Eingang gefunden.

Die Quintessenz dieses Lebens? Stark, unangepasst, eigenwillig. Philosoph, Außenseiter, Querkopf, Querulant, Minimalist, Vegetarier, Hipster: für jemanden, der seit über 2300 Jahren tot ist, ein erstaunlich moderner Charakter: heute schriebe er vielleicht, hierin ganz Kind seiner Zeit seiend, einen Internetblog über sein Tiny House (tiny in der Tat und in extremo), Second-Hand-Ressourcen und Recycling sowie Downsizing als bewusste Reduktion und Verringerung des eigenen Besitzes.