Wohnungslosigkeit hat viele Gesichter
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Rund 83 Millionen Menschen leben aktuell in Deutschland – darunter auch gut eine Million, die kein eigenes Zuhause haben. Das schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) aus Berlin, die sich seit vielen Jahren mit der Thematik befasst und sich seither als zuverlässige Informationsquelle etabliert hat. Genaue Zahlen kann sie allerdings auch nicht liefern, da es bundesweit keine einzige Datenbank gibt, in der Wohnungslose erfasst und registriert werden.
Um trotzdem einen realistischen Ansatzpunkt zu haben, werden die Daten von entsprechenden Einrichtungen herangezogen und ausgewertet, sowie eigene Beobachtungen und Zählungen im allgemeinen Straßenbild mit berücksichtigt – wobei wohnungslose Geflüchte allerdings nicht erfasst wurden. Die letzte offizielle Veröffentlichung gab es für das Jahr 2018 in dem die Zahl der Wohnungslosen auf 678.000 bis 860.000 beziffert wurde. Gut 41.000 von ihnen sollen dabei auch auf der Straße schlafen.
Das Gros der Wohnungslosen bilden noch immer Männer mit geschätzten 73 Prozent. Der Frauenanteil wird von der BAG W auf 23 Prozent taxiert, der von Kindern und Jugendlichen – als seperater Teil der beiden Gruppen – auf acht Prozent, wobei diese zum größten Teil in Heimen und anderen entsprechenden Einrichtungen unterkommen und nur in Ausnahmefällen komplett auf der Straße landen.
Versteckte Obdachlosigkeit
Dass es schwierig ist, das wahre Ausmaß von Wohnungslosigkeit zu erfassen, liegt auch daran, dass es viel versteckte Obdachlosigkeit gibt: so kommen etliche Menschen temporär bei Familie, Freunden oder Bekannten unter, ohne dass sie bei Hilfsangeboten der Stadt vorstellig werden. Diese so genannten Sofa-Hopper sind schwer zu greifen. Dazu kommen andere Menschen, die ebenfalls vom Radar verschwinden, weil sie in Autos, Zelten, Gartenlauben oder leerstehenden Gebäuden schlafen.
Genauso schwer wie es ist, die Wohnungslosen als Gruppe zu greifen, so unmöglich ist es, sie über einen Kamm zu scheren. Jeder Wohnungslose ist individuell und hat seine eigene Geschichte, seine eigenen Gedanken und seine eigenen Bewältigungsstrategien. Das Bild vom auf der Straße sitzenden Bettler in verschlissener und mitunter streng riechender Kleidung ist dabei nicht nur ein gängiges Vorurteil und Klischee, sondern auch naiv und viel zu kurz gedacht. Nicht jedem ist die Wohnungslosigkeit anzusehen, denn es gibt auch Menschen, die nach außen hin mit Anzug und manchmal sogar Aktenkoffer unterwegs sind, aber abends nicht wissen, wo sie unterkommen sollen.
Zahlreiche Treiber
Dies sollte man sich immer vor Augen halten, genauso wie die Tatsache, dass Wohnungslosigkeit jeden von uns treffen kann – aus den unterschiedlichsten Gründen und unabhängig von sozialer Herkunft und Bildungsstand. Armut, Krankheit, Trauer und Verlust der Wohnung können hierbei genauso ein Treiber sein, wie Naturkatastrophen, Krieg, Vertreibung, politische Unruhen, Pandemien wie aktuell Corona, ein Brand oder ein anderes Unglück. Wie schnell es mit der Obdachlosigkeit mitunter gehen kann, zeigte sich Anfang August in Beirut, wo durch Explosionen im Hafen auf einmal über 250.000 Leute ihr Dach über dem Kopf verloren haben – bei einer Gesamtbevölkerung von rund sechs Millionen Menschen. Ein weiteres Beispiel sind die USA, wo im Zuge der Corona-Krise Millionen Menschen von Wohnungslosigkeit bedroht sind, weil sie ihre Miete oder Kredite nicht mehr bezahlen können.
Verständnis als Ausgangsbasis
Fakt ist: Wer mit offenen Augen durchs ’normale’ Leben geht und nicht in einer exklusiven Elite-Umgebung verweilt, kann die Armut an vielen Stellen im Alltag sehen: beim Bettler, der auf der Straße sitzt, oder durch öffentliche Verkehrsmittel geht. Beim Flaschensammler oder jenem, der den Müll nach Essen durchforstet. Bei Menschen, die in schäbiger Kleidung herumlaufen und mitunter kaum noch was sagen – aus Scham, oder auch weil sie keine Kraft mehr haben. In Parks, auf Bänken und anderen Orten, wo sichtbare, spärliche Lager aufgeschlagen sind, sowie auch weniger sichtbare hinter Planen und Gebüsch. Vor allem nachts und in den frühen Morgenstunden, kann man an dem Problem der Armut und Wohnungslosigkeit kaum vorbeischauen, weil sich zu diesen Stunden all jene verstärkt im Straßenbild zeigen, die nicht wissen, wo sie hin sollen und nicht mehr in der normalen Masse zu Tageszeiten untertauchen können.
Ökonomische und soziale Armut
Obwohl die wirtschaftlich, ökonomische Armut in der Regel jene ist, die am sichtbarsten und hinderlichsten ist, weil sie den eigenen Entfaltungsspielraum empfindlich einschränkt, ist sie nur eine Seite der Medaille. Denn oft geht diese auch mit einer sozialen Armut einher, die im Lauf der Zeit ausgeprägter wird, weil die Kontakte in das frühere Leben abreißen und das Schließen neuer Freundschaften schwieriger ist, wenn einem die Basis fehlt und die Würde zusehends auf der Strecke bleibt, weil man sich immer stärker in der Position eines Bittstellers wiederfindet, der auf andere angewiesen ist, aber selbst nichts geben kann.
Auf Augenhöhe statt Bittsteller
Dieses Ungleichgewicht kann seinen auch seelisch zermürben und letztlich krank machen, weil man sich als unwichtig und ungeliebt empfindet und dadurch leicht in negative Gedankenspiralen verfallen kann. Genau an diesem Punkt setzt die Graue Funken-Initiative an, die darauf abzielt, das Selbstwertgefühl und die soziale Teilhabe von Betroffenen zu fördern und die Gefühle von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit abzufedern, indem sie gezielt Begegnungen ermöglicht, bei denen sich Bedürftige und Besser Gestellte auf Augenhöhe begegnen und austauschen sollen. Auch wenn man das Unrecht in der Welt nicht beseitigen kann, haben viele die Möglichkeit, sich im Kleinen zu engagieren und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und das besser heute als morgen.