Amartya Sen: Lobbyist für soziale Gerechtigkeit

Amartya Sen: Lobbyist für soziale Gerechtigkeit

Sie ist der rote Faden in seinem Leben: die soziale Gerechtigkeit. Schon vor Jahrzehnten hat der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen (* 1933) dieses Thema für sich entdeckt und die so genannte Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Forschung gestellt.

In seinen zahlreichen Publikationen, die bereits in über 30 Sprachen übersetzt wurden, setzt er sich intensiv mit den Gründen und Folgen von Armut und Hunger weltweit auseinander, die er primär als menschengemacht sieht und zeigt empirisch belegte Ansätze auf, mit denen sich gegensteuern ließe.

Eine These des Armutsforschers, der oft ein gewinnendes Lächeln für sein Gegenüber auf den Lippen hat, als Person zurückhaltend und bescheiden wirkt und die Welt aus klugen, dunklen und freundlichen Augen zu betrachten scheint:  Man stirbt nicht an Hunger, sondern an Armut. In Fachkreisen ist der 86-Jährige Sen bekannt  und genießt eine hohe Reputation. Er arbeitet auch im Corona-Jahr 2020 noch als Dozent, hält über 100 Ehrendoktorate und sein Werk und Wirken wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Im Jahr 1998 erhielt er sogar den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften und am 18. Oktober kam noch ein weiterer Preis hinzu: der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Laudatio-Rede und Verleihung fand wegen der Corona-Pandemie und der mit ihr einhergehenden Reise- und Veranstaltungsbeschränkungen allerdings nur online statt. Ehrengast Amartya Sen wurde aus den USA zugeschaltet.

Frühe Sensibilisierung

Dass er es einmal so weit bringen würde, hätten sich seine Eltern sicher nicht träumen lassen, als er im November 1933 in Santiniketan, Westbengalen, Indien, das Licht der Welt erblickte – auch wenn seine Startbedingungen gut waren: der Vater arbeitete als Professor für Chemie an der University of Dhaka und Bildung wurde im Haus Sen groß geschrieben. Finanzielle Not kannte der junge Amartya nicht, dennoch begegnete ihm das Thema soziale Ungerechtigkeit schon in jungen Jahren und berührte etwas in ihm, was ihn seither nicht mehr losgelassen hat.

Dabei spielten vor allem zwei Schlüsselerlebnisse eine besondere Rolle: zum einen die Ermordung eines muslimischen Tagelöhners, der seine Bedenken, in einem politischen Unruhegebiet zu arbeiten, wegen seiner Armut ignorieren musste und von extremistischen Hindus erstochen wurde (1941). Zum anderen die Hungersnot der Bengalen zwei Jahre später, der bis zu fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen – was sie zur größten humanitären Katastrophe im britischen Kolonialreich des 20. Jahrhunderts machte.

Die später entwickelte Erkenntnis, dass man das Ausmaß der Hungersnot deutlich hätte eindämmen können, wenn die Vorräte gezielt und gerecht verteilt worden wären, bildete die Basis für Sens‘ Berufswunsch des Wirtschaftswissenschaftlers, der für sozial-ökonomische Themen sensibilisiert ist und die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen will, in der Gleichberechtigung und Selbstwirksamkeit, Solidarität und demokratische Werte weit verbreitet sind.

Zielstrebig erfolgreich

Nach einem Bachelor-Studium der Wirtschaftswissenschaften in Kalkutta, ging Sen ins britische Cambridge, um seine Studien auf Master- und Phd.-Niveau zu vertiefen. Dank eines gewonnenen Preises konnte er dort zudem auch noch ein Studium der Philosophie realisieren und damit seine beiden großen Leidenschaften akademisch `verbrieft‘  zusammenbringen und Fragen der Ökonomie gezielt mit denen der Moralphilosophie zu verbinden.

Seine berufliche Karriere lief für den still und zurückhaltenden, aber umso zielstrebigeren Sen gut an und führte ihn bereits in den 1960er Jahren an die vier amerikanischen Elite-Universitäten MIT (Massachusetts Institute of Technology) , Stanford, Berkley und Harvard. Zu seinen weiteren Wirkungsstätten zählten ferner Lehrinstitute in Delhi, London und Oxford.

Ab den 1970ern Jahre entdeckte er zusehends das Schreiben für sich. Zu den Publikationen, die seinen Ruf als exzellenten Sozial-Ökonom mit einem Faible für empirisch unterlegte Thesen,  international befeuerte, zählten unter anderem die Bücher „Collective Choice and Social Welfare“ (1970) und „On Economic Inequality‘, sowie seine Ausführungen und Analysen  in „Poverty and Famines“ (1981),  das zu seiner berühmtesten Publikation wurde und ihm den Weg zum Nobelpreis ebnete.

‘Rationaler Narr‘ am Pranger

So wichtig ihm seine zentralen Themen sind – Armut , Ungleichheit , Gerechtigkeit und Freiheit – so sehr legt Sen Wert darauf, dass er in erster Linie auf Fakten und nicht auf Emotionen setzt und seine Anliegen wissenschaftlich fundiert untermauert. Dabei kann er für manchen Zeitgenossen auch unbequem werden – etwa, indem er Widersprüche in Gedankengängen aufdeckt, oder Schwachstellen in Kausalzusammenhängen aufzeigt und dabei auch starke Bilder nicht scheut. In seinem Buch ‚Poverty and Famines‘ (1981) merkt er so beispielsweise an, dass viele Menschen in der Dritten Welt nicht verhungern, weil es keine Nahrung gibt, sondern vielmehr, weil sie sich die Nahrung nicht leisten können.

In seiner Arbeit plädiert Sen stets dafür, das größere, Ganze im Blick zu haben. So wenig man gesellschaftlichen Wohlstand und die Teilhabe des Einzelnen allein am Wirtschaftswachstum messen könne, so wenig basiere Lebensqualität allein auf materiellem Wohlstand, sondern hänge vielmehr mit weiteren Aspekten wie Bildung, persönliche Unabhängigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, sowie Gleichheit unter den Geschlechtern zusammen. Diese Gedanken finden sich auch im ‘Index der menschlichen Entwicklung‘ (Human Development Index) wieder, den die Vereinten Nationen seit 1990 herausgeben und der maßgeblich auf Sens Vorschlägen basiert. 

Dem gegenüber steht der Begriff  des ‘rationalen Narrens‘ (rational fool‘) – ein Bild, das Sen 1977 aufgriff, um den eigennützigen Menschen aufzuzeigen, der sein persönliches Wohlergehen vor das soziale Wohl der Allgemeinheit stellt und dadurch Ungleichheiten fördert.

Der rote Faden bleibt

Obwohl er schon lange nicht mehr in Indien zu Hause ist, hat Sen seine indischen Wurzeln nie vergessen und das Schwellenland in seinen Arbeiten wiederholt als Exempel benutzt, um auf bestehende Ungleichheiten hinzuweisen, die in der Kasten-Gesellschaft Indiens deutlich sichtbar sind.

Eine große berufliche Verbindung besteht weiterhin vor allem zur Harvard University, wo Sen – von einer sechsjährigen Unterbrechung abgesehen – seit 1988 immer wieder Vorträge hält und noch im Corona-Jahr 2020 als Gast-Dozent im ‘Spring Semester‘ für den Kurs: “Smith and Marx: Philosophy and Political Economy“ gelistet war.

Kein Wunder also, dass der 4-fache Familienvater auch seinen geographischen Lebensmittelpunkt schon vor langer Zeit in die USA verlegt hat: zusammen mit seiner dritten Frau, der Wirtschaftshistorikerin Emma Georgina Rothschild-Sen (* 1948), mit der er seit 1991 verheiratet ist, lebt er in Cambridge, im Großraum Boston, in unmittelbarer Nähe zu seiner langjährigen Wirkungsstätte Harvard – an der im Übrigen auch seine Frau als Professorin arbeitet. -idr-