Materielle Armut ist nur die Spitze des Eisbergs

Materielle Armut ist nur die Spitze des Eisbergs

Die materielle Armut ist in der Regel jene, die für andere am sichtbarsten ist: beim Bettler, der auf der Straße sitzt, oder durch öffentliche Verkehrsmittel geht. Beim Flaschensammler oder jenem, der den Müll nach Essen durchforstet. Bei Menschen, die in verschlissener und schäbiger Kleidung herumlaufen. Doch daneben gibt es noch etliche andere Arten von Armut, die von vielen oft vergessen werden: die soziale Armut zählt genauso dazu, wie die spirituelle Armut, sowie die kulturelle, geistige und emotionale Armut. Obwohl sich die ökonomische Armut am intensivsten auf das Alltagsleben und den eigenen Spielraum auswirken, sollte die Wichtigkeit der anderen Formen nicht unterschätzt werden. So heißt es schon in der Bibel, im 5. Buch Mose, Kapital 8,3: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“.

Maslowsche Bedürfnispyramide

Natürlich ist es wichtig und essentiell, dass zuerst einmal die Grundbedürfnisse befriedigt werden, bevor man sich anspruchsvolleren Bedürfnissen zuwendet. Ein bekanntes Modell, welches sich mit dieser Thematik befasst ist die Maslowsche Bedürfnispyramide, die der Psychologe Abraham Harold Maslow (1908 – 1970) ursprünglich als Modell entwickelt hat, um die unterschiedlichen menschlichen Bedürfnisse ihrer Wichtigkeit nach hierarchisch darzustellen. Den ersten Ansatz startete Maslow 1943, verfeinerte diesen aber über die Jahre. Herausgekommen ist ein 5-Stufen-Modell, das allerdings nur vereinfacht ausgelegt werden kann, da sich der Stellenwert der einzelnen Bedürfnisse je nach Zeit und Gesellschaft ändern kann – von der reinen Existenzsicherung abgesehen.

Niedrigschwellig hat Konjunktur

Zu den ‚Grund- und Existenzbedürfnissen‘, die auf der ersten Stufe angesiedelt sind, zählen Essen und Trinken, sowie Schlaf und Wärme. Diese Punkte sind es auch, die von den meisten Hilfsangeboten für Wohnungslose und andere Bedürftige abgedeckt werden. Sie werden gemeinhin als niedrigschwellige Angebote bezeichnet, da sie leichten Zugang gewähren und ihre Nutzung im Normallfall keine besonderen Fähigkeiten oder Voraussetzungen erfordert. Je höher man auf der Bedürfnispyramide geht, desto stärker dünnen sich die Offerten allerdings aus. Bereits bei der nächsten Stufe ‚Sicherheit‘, können einige Notunterkünfte nicht mehr mithalten – was für manchen Wohnungslosen ein Grund ist, warum er sich komplett für ein Leben auf der Straße entscheidet.

Verharren auf der Bittsteller-Position

Auf der dritten Stufe steht das ‚Sozialbedürfnis‘ – das die Ausgangsbasis für die ‚Graue Funken‘-Initiative bildet. Denn hier gibt es definitiv viel Luft nach oben. So gibt es wenig Angebote, bei denen Wohnungslose über die Rolle eines Bittstellers hinauskommen, oder wirklich selbst produktiv und kreativ werden können. Positive Beispiele die eigenes Engagement berücksichtigen sind Straßenzeitungen und soziale Stadtführungen – wobei auch hier mitunter Sozialarbeiter oder andere, nicht direkt von Wohnungslosigkeit Betroffene das Ruder – zumindest partiell – übernehmen. Die Stufen vier und fünf auf der Bedürfnispyramide – namentlich ‚Anerkennung und Wertschätzung‘ sowie ‚Selbstverwirklichung‘, werden entsprechend selten geboten, sieht man einmal von jenen ab, die ein Leben ohne eigenes Dach über dem Kopf aus freien Stücken wählen.

Soziale Teilhabe ein Muss

Je länger sich jemand in einer misslichen Lage befindet, die ihn zusehends vom Wohlwollen anderer abhängig macht, umso brüchiger werden in der Regel auch die Kontakte und Brücken in ‚die alte Welt‘, weil die gemeinsame Bais wegbricht und sich die Erlebnis- und Selbstwirksamkeitshorizonte signifikant verschieben. Diese Entwicklung kann krank machen, weil man sich in der Konsequenz zusehends als unwichtig und ungeliebt empfindet und so leicht in negative Gedankenspiralen verfallen kann. Umso wichtiger ist es, das Selbstwertgefühl und die soziale Teilhabe von Betroffenen schon möglichst früh zu fördern, um Gefühle von Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit  abzufedern und sie im positiven Sinne aktiv in der Gemeinschaft zu halten.

Volkswirtschaftlicher Benefit

Dies macht auch in wirtschaftlicher Hinsicht Sinn, da die Sozialausgaben durch präventive Ansätze nachweislich sinken können. In seinem Bestseller ‚Einsamkeit – Die unerkannte Krankheit‘ brachte es der Hirnforscher Manfred Spitzer auf den Punkt: Einsamkeit und soziale Isolation machen nachweislich krank und ziehen gerade im medizinischen Sektor hohe finanzielle Folgekosten nach sich, da Betroffene anfälliger für Krankheiten wie Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt, Demenz und Depressionen werden.

Dieser Aspekt wurde auch von einigen Wissenschaftlern bestätigt, welche die Benefits des ‚Housing-First‘-Konzepts auswerten, bei dem die eigene Wohnung inklusive sozialer Betreuung – sofern gewünscht – allen anderen Hilfsangeboten vorgeschaltet ist und nicht erst an Auflagen gekoppelt wird. Sie wiesen nach, dass sich dieser Vertrauensvorschuss in mehrfacher Hinsicht auszahlt, weil sich Betroffene schneller um wichtige Angelegenheiten wie Arztbesuche kümmern, wenn ein Dach über dem Kopf als Ausgangsbasis steht. In der Konsequenz fallen weniger Ausgaben für aufwändigere Behandlungen, Krankenhausaufenthalte, Eingriffe und Rehamaßnahmen an.

Foto/Bild: von Pixabay